Mitglied werden
Login Logout Mitglied werden
Warenkorb

Zukunft

Sieben Milliarden Leser

03.02.2015

Der Journalismus der Zukunft wird wunderbar, meint unser Kolumnist

Als ich kürzlich im Schwarzen Café an der Kantstraße vor mich dahindämmerte, stand plötzlich mein alter Bekannter Oleg vor mir am Tisch. "Mensch, Alexander, was siehst Du so deprimiert aus! Ist es Winterdepression oder journalistisches Burn-out?“

Ich winkte ab: „Nein, Oleg, seit diesem Jahresanfang mit Charlie Hebdo ist bei mir die Luft raus! Wenn sie einem jetzt auch noch die Witzblätter kaputtmachen, da vergeht mir die Lebenslust!“

Oleg kratzte sich am Kopf: „Alexander, Du überrascht mich! Was engagierst Du Dich jetzt so für die Franzosen? Willst Du etwa sagen, dass Du dieses französische Blatt am Ende regelmäßig gelesen hast?“

„Tsch!“, fuhr ich Oleg an und schaute mich nervös um. „Selbstverständlich keinesfalls, also jedenfalls nicht regelmäßig, nicht, dass jemand auf eine Idee kommt!“

Oleg zuckte mit den Achseln. „Also, ich weiß nicht, warum gerade dieser Vorfall jetzt ein Grund zur Traurigkeit sein soll. Habe gerade in irgendeinem Zeitungskommentar gelesen, dass ja täglich viel mehr Leute in anderen Ländern durch Bombenanschläge ums Leben kommen, und deswegen spiele ich doch auch nicht gleich den Miesepeter!“

Es war klar, dass Oleg den Ernst der Situation nicht begriffen hatte. Ich musste es ihm erklären. „Oleg, wir können nicht mehr frei formulieren, nicht mehr unbefangen schreiben, wir sind jetzt alle unter Kontrolle, das zeigt der Fall von Charlie! Früher wäre das Witzblatt weitgehend ignoriert worden, weil sich die Bilder nicht in alle Ecken der Welt verbreitet hätten. Doch heute, durch das Internet, wird alles, was Du verzapfst, in allen Ecken der Welt zugänglich. Und – zack! – kommt einer vorbei und haut Dir den Kopf ab!“

Oleg war nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ein extremes Beispiel. Also ich blogge schon seit 15 Jahren, und noch nie ist etwas passiert, auch wenn mein Blog weltweit erreichbar ist!“

„Oleg, mach Dir klar: Früher haben wir nur für zehn- oder zwanzigtausend Leser geschrieben. Da konnten wir provozieren, kritisieren, Spaß machen über Autoritäten. Heute aber schreiben wir potenziell für sieben Milliarden Menschen, auf die wir alle Rücksicht nehmen müssen, wenn wir nicht Stress bekommen wollen!“

„Na und?“, Oleg war nicht aus der Ruhe zu bekommen. „Dann schreibst Du eben ein wenig rücksichtsvoller, dafür hast Du aber auch mehr Leser und Feedback! So mache ich das mit meinem Blog!“

„Oleg, was ist das denn für eine Auffassung von Pressefreiheit, wenn ich ständig daran denken muss, dass ich nicht sieben Milliarden Leuten auf die Füße trete?“

Oleg war die Gemütsruhe in Person. „Alexander, schau doch einmal die Vereinten Nationen an. Da kommen in New York auch die Vertreter von sieben Milliarden Menschen zusammen, tragen ihre unterschiedlichen Meinungen vor, aber bleiben dabei zivilisiert. Genauso muss heutzutage eben auch der Journalismus sein.“

„Oleg, Journalismus muss kritisieren, hinterfragen, angreifen, aus der Reserve locken, polemisch sein. Was Du da meinst, ist Diplomatie, das Gegenteil von Journalismus!“

„Aber Alexander, die Zeiten ändern sich halt. Mehr Reichweite, mehr Verpflichtungen. Abgesehen davon ist diplomatischer Journalismus auch für die Journalisten von Vorteil!“

„Wie denn das?!“

„Wer heutzutage als Journalist arbeitet, wird zwangsläufig zum Diplomaten. Damit haben Journalisten ganz neue berufliche Möglichkeiten. Sie sind in vielen Berufen einsetzbar, in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, als Manager in Konfliktsituationen, ja als Regierungssprecher oder eben auch als Botschafter im diplomatischen Dienst!“

„Du meinst also Oleg, wir sollten es einfach positiv sehen?“

„Alexander, sieben Milliarden Leser erreichen zu können und damit zugleich Karriere zu machen, löst bei mir eine unheimlich positive Energie aus!“ Er winkte und entfernte sich mit einem fröhlichen Summen.

Ich gestehe ein, auch meine Laune verbesserte sich. Sieben Milliarden Leser! So gesehen, müssen wir alle Kompromisse machen. Nicht nur an die Tibetaner denken, sondern auch an die Chinesen, die mühsam die Trassen über das tibetanische Hochland bauen. Nicht nur an die Pandas denken, sondern auch an die armen Bambusbäume, die von ihnen vertilgt werden. Nicht nur an die Ausbeutung in iPhone-Fabriken denken, sondern auch an die glücklichen Gesichter der Apple-Aktionäre. Und so weiter.

Der Journalismus der Zukunft wird wunderbar. Sage ich jetzt mal so ganz diplomatisch.


Ihr

Alexander Alexandrowitsch Blog



   

freienblog

Weitere Artikel im DJV-Blog

Charlotte Merz
Charlotte Merz

15.05.2024

Die Richterin und das Grundrecht Pressefreiheit

Mit ihrem resoluten Vorgehen gegen einen ZDF-Reporter offenbart Richterin Charlotte Merz ein fragwürdiges Verhältnis zum Grundrecht der Pressefreiheit.

Mehr
STREIK BEIM WDR
STREIK BEIM WDR

07.05.2024

Gier auf Kosten der Freien

Dass Medienunternehmen in Tarifverhandlungen knauserig sind, ist nicht neu. Dass manche von ihnen erst durch Arbeitskämpfe zu besseren Angeboten zu bewegen sind, auch nicht. Dass aber die Honorare der …

Mehr
RAI
RAI

06.05.2024

Legt die Arbeit nieder

Beim italienischen Fernsehsender RAI wird heute gestreikt. Nicht für mehr Geld oder neue Tarifverträge, sondern gegen die Einmischungen der Regierung in die Programminhalte.

Mehr
ITALIEN
ITALIEN

26.04.2024

Hände weg von der RAI

Die Versuche der politischen Einflussnahme durch die Regierung Meloni auf den Rundfunksender RAI nehmen zu. Anfang Mai soll es deshalb einen Streik geben.

Mehr
MEDIENKRITIK
MEDIENKRITIK

25.04.2024

Til Schweiger überzieht

Im Interview mit der Zeit übt Schauspieler und Regisseur Til Schweiger heftige Kritik an einigen Medien. Das kann nach der Berichterstattung über ihn nicht verwundern. Aber bei Kritik belässt er es ni …

Mehr
WDR-RUNDFUNKRAT
WDR-RUNDFUNKRAT

24.04.2024

Zeichen gesetzt

Der Rundfunkrat des Westdeutschen Rundfunks fordert von dem Sender rechtliche Schritte, wenn die Erhöhung des Rundfunkbeitrags von der Politik nicht zügig beschlossen wird.

Mehr
JOURNALISTEN
JOURNALISTEN

22.04.2024

Wir sind kein Klischee

Warum nur geraten Journalisten im Spielfilm so gnadenlos daneben? Weil die Drehbuchschreiber keine Ahnung vom Journalismus haben? Oder weil sich das Klischee besser verkauft als die Wirklichkeit?

Mehr
URLAUBSENTGELT
URLAUBSENTGELT

19.04.2024

Freie, aufgepasst!

Freie beim Deutschlandradio haben Anspruch darauf, dass Wiederholungshonorare für die Berechnung des Urlaubsentgelts berücksichtigt werden. Das entschied das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurt …

Mehr
TARIFKONFLIKT
TARIFKONFLIKT

17.04.2024

Hoch zu Ross

750 Beschäftigte des Westdeutschen Rundfunks hatten gestern die Nase voll und beteiligten sich am Warnstreik der Gewerkschaften. Bestätigt wurden sie von den Verhandlern der Gegenseite.

Mehr
PROSIEBENSAT.1
PROSIEBENSAT.1

16.04.2024

Berlusconi ante portas

Droht der Fernsehkonzern ProSiebenSat.1 von Hauptaktionär Media for Europe übernommen zu werden? Die Medienaufsicht sollte ihren Blick schärfen.

Mehr
FERNSEHNACHRICHTEN
FERNSEHNACHRICHTEN

15.04.2024

Angekündigte Katastrophe

Mehrere Stunden lang flogen iranische Drohnen Richtung Israel. Stunden, in denen die Öffentlich-Rechtlichen ihr Programm hätten umkrempeln können. Doch bis zu Sondersendungen in ARD und ZDF vergingen  …

Mehr
SWMH
SWMH

11.04.2024

Tröpfchen-Kommunikation

Die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH), zu der die Süddeutsche Zeitung gehört, tut sich schwer mit klaren und umfassenden Fakten zum geplanten Stellenabbau bei der SZ.

Mehr
ÜBERGRIFFE
ÜBERGRIFFE

09.04.2024

Nicht mehr so schlimm?

Laut Reporter ohne Grenzen ist die Zahl der Übergriffe auf Journalisten 2023 gegenüber dem Vorjahr stark gesunken. Grund zur Entwarnung? Eher nicht.

Mehr
HÖCKE-INTERVIEWS
HÖCKE-INTERVIEWS

08.04.2024

Mit Präzision begegnen

Wie lassen sich Interviews mit Thüringens AfD-Politiker Björn Höcke führen? Sollten sie überhaupt geführt werden? Damit hat sich die Süddeutsche Zeitung in einem lesenswerten Bericht auseinandergesetz …

Mehr
FÖDERL-SCHMID
FÖDERL-SCHMID

05.04.2024

Hexenjagd geht weiter

Die Universität Salzburg bescheinigt der stellvertretenden SZ-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid "kein relevantes wissenschaftliches Fehlverhalten". Sie darf ihren Doktortitel behalten. Das sieht …

Mehr
UPDATE: RUNDFUNK-MANIFEST
UPDATE: RUNDFUNK-MANIFEST

04.04.2024

Nah am Rand

Über das "Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland" sind die notorischen Medienhasser in den Social Media aus dem Häuschen. Bei aller berechtigten Kritik an den Öffentli …

Mehr
KÖLNER STADT-ANZEIGER
KÖLNER STADT-ANZEIGER

03.04.2024

Vermarkter am Ruder

Die Online-Ausgabe des Kölner Stadt-Anzeigers soll der digitalen Produktentwicklung unterstellt werden und angeblich redaktionell unabhängig bleiben. Zweifel sind angebracht.

Mehr
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

28.03.2024

Die Leser sind nicht blöd

Zeitungsleser wollen für Inhalte, die mit KI erzeugt werden, weniger bezahlen. Das ergab eine Umfrage. Eigentlich eine klare Aussage - wären da nicht Marketingexperten, die Morgenluft wittern.

Mehr
VOICES FESTIVAL
VOICES FESTIVAL

27.03.2024

Journalismus trifft Medienkompetenz

Nur wenn Qualitätsjournalismus und Medienkompetenz zusammenspielen, kann eine Zukunft gelingen, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, fand DJV-Vorstandsmitglied Ute Korinth in Florenz heraus.

Mehr
TELEGRAM
TELEGRAM

26.03.2024

Schluss mit lustig

Ein spanisches Gericht hat den Messengerdienst Telegram in dem Land abgeschaltet. Grund sind Verstöße gegen das Urheberrecht.

Mehr