Diskriminierung
MeToo bei uns
Übergriffigkeiten à la Harvey Weinstein in deutschen Medien? Undenkbar. So lautete die übereinstimmende Einschätzung in der deutschen Medienbranche, als vor Jahren in den USA MeToo bekannt wurde. Inzwischen ist klar, dass das nicht stimmt.
Der Fall Julian Reichelt warf ein Schlaglicht darauf, was BILD unter Gleichberechtigung in der Redaktion verstand. Von Missbrauch war die Rede, von Karrieren als Dank für sexuelle Gefällgkeiten gegenüber dem Chefredakteur. Und als Springer-Chef Mathias Döpfner viel zu lange an Reichelt festhielt, schlossen vor allem Journalistinnen daraus, dass Aufklärung keine Chance hatte und es wohl besser war, sich zu fügen. Zumal mögliche Gerichtsprozesse durch individuelle Einigungen abgewendet wurden.
Für eine Frau ist die Reichelt-Affäre nicht erledigt: Funke-Verlegerin Julia Becker erklärte jetzt in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, warum sie nicht zur Tagesordnung übergeht. Für sie ist das nicht nur eine Springer- oder Reichelt-Affäre, sondern kratzt am Selbstbewusstsein des Verlegerverbands BDZV. Denn, so schreibt sie: "Wir haben im vergangenen Jahr den Versuch des kollektiven Beschweigens eines brutalen Machtmissbrauchs gegenüber Frauen in der Medienbranche erlebt. Es war unerträglich, weil es die Leiden der betroffenen Frauen noch vergrößert, das geschehene Unrecht verstärkt und auch weil es unsere Branche beschmutzt." Ihre Konsequenz: Funke verließ den Verlegerverband. Schluss, Basta.
Was hat sich geändert? Bei BILD steht mit Johannes Boie ein neuer Chefredakteur an der Spitze, und der BDZV kommt jetzt ohne Mathias Döpfner an der Spitze aus. Fein, aber hat sich strukturell etwas geändert? Nein. Es steht zu befürchten, dass hochgestellte Redaktionsbosse ihre Macht missbrauchen. Ob das Medium BILD oder Heimatzeitung heißt, hat nur für die Schlagzeilendichte Relevanz, nicht für die Opfer.
Die Opferperspektive nimmt Anushka Roshani ein, die in einem Gastbeitrag für den Spiegel ihre albtraumhaften Erlebnisse bei dem schweizerischen Titel "Magazin" aufgeschrieben hat. 20 Jahre lang hat sie dort als Redakteurin gearbeitet. Ab 2007 erlebte sie "ein Regime des Mobbings" unter Chefredakteur Finn Canonica, wie sie schreibt. "Im Wesentlichen aber entwürdigte er mich mittels verbaler Herabsetzungen. So unterstellte er mir in einer Konferenz, ich hätte mir journalistische Leistungen mit Sex erschlichen: Ich sei mit dem Pfarrer der Zürcher Fraumünster-Kirche im Bett gewesen, den ich für eine Recherche getroffen hatte. In einer SMS sprach mich Canonica als »Pfarrermätresse« an."
Hallo, geht's noch? Journalistin Roshani macht keinen Ausflug ins finstere Mittelalter, sondern beschreibt undenkbare Zustände bis zu Canonicas Abgang im vergangenen Jahr. Und was macht der Verlag? Er streitet alle Vorwürfe ab.
Gut, dass die Kollegin den Weg an die Öffentlichkeit gesucht hat. Ihre bedrückende Schilderung darf nicht ohne Folgen bleiben. Mit welchem Recht regieren eigentlich solche testosterongesteuerten Mediengorillas ihre Redaktionen? Wenn BILD und Magazin keine Einzelfälle sind, müssen alle anderen Fälle an die Öffentlichkeit gelangen. Denn nur so, das zeigt das Beispiel USA, ändert sich etwas.
Ein Kommentar von Hendrik Zörner