Geschäftsidee
Journalismus, der sofort verschwindet
Jour-Chat, die passende App für das Zeitalter
Kürzlich schlenderte ich einmal mehr über die Lietzenburger (Sie wissen schon, so eine Art Parallelgesellschaft zum Kurfürstendamm), als ich von der Boulevard-Terrasse eines Cafés ein herzliches "Privjet, Alexander!" zugedonnert bekam.
Ich sah von meinem Smartphone auf, in das ich wie üblich beim Promenieren versunken war, und sah meinen alten Bekannten Boris, mit dem ich in meiner verflossenen Jugend an der MGU* studiert hatte. Ich versuchte, das eigentlich angebrachte gequälte Lächeln zu unterdrücken, und nachdem wir uns nach etlichen Bruderküssen und Umarmungen wieder voneinander gelöst hatten (im Ebola-Zeitalter ohnehin vernünftiger), starrte ich ihn mit großen Augen an, da ich nicht die gefährliche Frage stellen wollte nach dem Was-machst-Du-so (was eigentlich meint: Wie viel Hunderttausend hast Du auf dem Konto), die ja schnell in Geschichten über verlorene Arbeit, Scheidung und Hilfsbedürftigkeit enden kann.
Doch Boris kam mir zur Hilfe: "Ich mache jetzt ein ganz großes Ding!" - "Wirklich?" gab ich vor zu staunen (die ganz großen Dinger macht eigentlich jeder meiner Bekannten, wenn ich sie nach Jahrzehnten wiedersehe).
"Du denkst jetzt sicherlich, dass mein großes Ding eigentlich so eines der Dinger ist, die eigentlich jeder Deiner Bekannten so macht oder zu machen vorgibt, wenn Du ihn nach Jahrzehnten wiedersiehst", rief Boris, und genau so heftig wie er rief ich aus: "Nein, mein Freund, nie wäre ich bei Dir auf solch einen Gedanken gekommen!" "Xoroscho" (Gut), grunzte Boris und stieß mit mir auf ein Gläschen vaterländischen Klaren an. "Du hast es nämlich mit einem Medienmann zu tun!"
Jetzt war ich auf der Hut. Seit einigen Jahren war ein Medienmann (in der Heimat) jemand, der viel mit der Macht und dem Gas-Sektor zu tun hatte, mächtig und zugleich unheimlich gefährlich, wenngleich auch sehr nett, solange nicht über Politik gesprochen wurde. "Medien", gab ich vor skeptisch zu fragen, "kann mit Medien denn heute noch Geld verdient werden? Das ist doch alles auf dem absteigenden Ast, die Zeitungen, die Werbung, da geht es doch besser in anderen Branchen, beispielsweise Mais oder Schweinefleisch!"
"Das ist vollkommen richtig, Deine Analyse!" rief Boris und klopfte auf den Tisch und stieß mit mir auf einen weiteren Klaren an. "Ich habe aber eine neue Geschäftsidee mit Medien entwickelt!" Ich blickte ihn nunmehr wirklich skeptisch an, denn wer heutzutage noch mit Medien Geld verdienen will, hat entweder keine Ahnung oder ist ein gefährlicher Irrer.
"Ich habe eine App entwickelt, mit der Journalismus versendet werden kann!" rief Boris und schwenkte sein überdimensionales Smartphone, das übrigens vor Swarovski-Steinen nur so funkelte und in einer Art goldenen Handy-Hülle steckte. "Tatsächlich", gab ich den Überraschten, um sofort wieder skeptisch zu surren: "Aber Boris, ich habe auf meinen Smartphone auch RT, ORT, die Snob-App** sowie BBC und CNN, so neu wäre das ja eigentlich nicht?"
"Meine App funktioniert ganz anders!" prahlte Boris. "Du kennst doch sicherlich Snapchat. Eine App, mit der Fotos verschickt werden können und gleich nach der Ansicht wieder verschwinden. Datenschutz pur. Meine App wird das mit Journalismus machen. Der Journalist schreibt eine Nachricht, sie wird gelesen, und sofort ist sie weg!"
"Aber Boris, was sollte der Vorteil sein von Nachrichten, die sofort verschwinden?" fragte ich mit nunmehr echtem Zweifel. "Denk doch an die Vorteile!" rief Boris. "Die Nachricht ist weg, fort, verschwunden! Ungeahnte Freiheit für Redaktionen! Schnell was schreiben, raussenden, zack, erledigt. War ein Fehler drin, macht nichts, denn es bleibt nirgendwo gespeichert. Keine Möglichkeit für Leute, sich über Deine Texte zu beschweren, keine Möglichkeit für Politiker, die Wirtschaft oder sonstige Liberale, Dir Ärger zu machen wegen Deiner unkorrekten Meldungen!" Er hielt jetzt das Smartphone so sehr demonstrativ in die Luft, als sei er eine lebendige Ausgabe der New Yorker Freiheitsstatue. Dann senkte er es, um es mir geradezu auf die Nase zu richten. "Und es kann viel Geld gespart werden! In den Redaktionen werden nicht mehr so viele Journalisten gebraucht. Warum Fakten checken, wenn man einfach erst mal was rausrotzen kann, um es anschließend mit weiteren Nachrichten zu korrigieren? Verschwindet doch sowieso!"
"Also verschwindet nicht nur der Journalismus, sondern auch die Journalisten!" rief ich, und ich wusste selbst nicht, ob dies nur eine überraschte Feststellung oder ein empörter Ausruf sein sollte.
"Sehr richtig", knurrte Boris jetzt wie ein zufriedener Oberlehrer, "und dafür bedanken sich nicht nur die Verleger bei mir, sondern auch viele Politiker. Schluss mit dem ständigen Rumgestocher und Bohren. Journalismus wird nicht mehr sein als ein schnelles Gerücht, das nirgendwo nachzulesen ist und im Zweifel gerade eben wieder durch eine - erneut verschwundene - Nachricht widerlegt worden sein könnte!"
"Ich weiß nicht, ob das wirklich so gut wäre, Deine App!" murmelte ich ratlos und sah mich gezwungen, mich vom Stuhl (nach einem weiteren, matt angestoßenen Klaren) zu erheben, um mich irgendwie auch von dieser seltsamen Idee von Journalismus zu trennen.
"Gut oder schlecht, es ist das Internet, das regiert!" rief Boris mir nach, zum Abschied wild wedelnd mit dem Smartphone, in das auch ich gleich wieder versank, auf der Suche nach irgendeiner guten Nachricht.
Alexander Alexandrowitsch Blog
*Sie wissen sicherlich, was gemeint ist.
**dito