Putin-Rede
Herausforderung für Journalismus
Mehr als eine Stunde Propaganda und nationale Märchen: Der russische Präsident hat in seiner Rede zur Lage seiner Nation einen bunten Blumenstrauß an Narrativen zusammengengesteckt. In anderen Ländern entzaubern Journalisten die Putin-Propaganda-Show, was im eigenen Land nicht mehr möglich ist. Doch mit "er sagt, sie sagt"-Journalismus wird man dem Desinformationsfeuerwerk nicht gerechnet.
"He-said-she-said"-Journalismus kommt bei Wladimir Putin an seine Grenzen. Ja, ganz oft ist es gerade im Nachrichtenjournalismus notwendig, ganz nüchtern und ohne Wertung zu berichten, was jemand gesagt hat. Doch bisweilen stößt dieses Prinzip an seine Grenzen. Etwa dann, wenn ein Autokrat den Kontakt mit dem Boden der Tatsachen fast dauerhaft verliert. Wer dann nur Aussagen aneinanderreiht, gibt der Desinformation nur eine Bühne.
Der "Guardian" hat schon 2016 auf die Gefahren dieser "falschen Ausgewogenheit" hingewiesen. Bei klarer Faktenlage einfach Aussage und (im besten Fall) Gegenaussage nebeneinander zu stellen, ist nicht hilfreich, sondern gefährlich. Wenn Medien Aussagen von Putin in Anführungszeichen setzen und davor schreiben "Putin sagt:", werden damit nicht jene Qualitätshürden übersprungen, die das Publikum zurecht erwarten darf, die sogar eine Daseinsberechtigung für Journalismus in freien Gesellschaften sind.
Wie es geht, zeigte recht rasch am Dienstag die "New York Times": Schnörkellos, einfach, mit einer einordnenden Überschrift: "Putin Falsely Claims West Started War and Signals No End to Fighting". Auch in Deutschland gibt es etliche Beispiele exzellenter Berichterstattung. "Ein Feuerwerk der Desinformation", titelt etwa der Tagesschau-Faktenfinder und greift eine Auswahl an Falschbehauptungen und Verschwörungsmythen auf. Etwa die perfide Aussage, dass "im Westen" Pädophilie zur Norm erklärt werde. Viele Zeitungen, Online-Portale, Nachrichtensender in Deutschland berichteten so oder ähnlich: einordnend, nicht einfach Putin-Propaganda wiedergebend.
Das ist auch der Mehrwert, den Journalismus leisten kann, Propaganda von Wahrheit trennen. Kein Wunder, dass Putin bei seiner Show keine unabhängigen Journalist:innen haben möchte, weil sie aus "unfreundlichen Staaten" kommen, dass für ihn die staatliche Kontrolle der Medien - vor allem des in Russland so wichtigen Fernsehens - so wichtig ist: Schwache Herrscher sind auch auf eine schwache Presse angewiesen, um sich an der Macht halten zu können. Fast komisch dabei, dass durch seine Rede ausgerechnet Journalist:innen im ihm so verhassten Westen angespornt werden, exzellente Arbeit abzuliefern, um die Blendgranaten seines Propaganda-Feuerwerks zu enttarnen.
Ein Kommentar von Mika Beuster