Meinungsfreiheit
Glaubt keinem Dokumentarfilm
Episches Theater oder Urheber- und Persönlichkeitsrechtsverletzung gegenüber den Autoren?
„Glaubt keinem Sänger“, sang einst der deutsche Barde Heinz Rudolf Kunze. Glaubt keinem Dokumentarfilm, demnächst Thema eines Dokumentarfilms? Die ARD hat bei der Ausstrahlung des Films „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa" alles dafür getan, dass der Zuschauer den Glauben an das Genre Dokumentarfilm für alle Zeiten verlieren konnte.
Warnhinweise vor der Ausstrahlung, Untertitel mit Hinweis auf einen online abrufbaren „Faktencheck“ (z.B. zur wichtigen Frage, ob Wagner ein Antisemit war oder nicht), Unterbrechungen mit Richtigstellungen, eine nachfolgende Diskussion über den Film mit Fernsehdirektor, Historiker, Ex-Politiker, Psychologen und Journalisten.
Im Prinzip handelte es sich bei der Ausstrahlung gar nicht mehr um einen journalistischen Bericht, sondern eher eine medienpädagogische Veranstaltung oder sogar um episches Theater im Sinne von Bertold Brecht: der Zuschauer wird ein aktiv mitdenkender Zuschauer, der das Geschehen auf der Bühne als Spiel durchschaut und seine Lehren daraus zieht. Die Verfremdung des ursprünglichen Dokumentarfilms ist der ARD dabei in aller Form gelungen – streckenweise war sogar nicht mehr ganz klar, ob der Sprecher nun den Originaltext oder die Richtigstellung vorlas. Egal, ist doch Kunst: Die ARD hat so die Illusion des Bühnenerlebnisses aufgehoben und vom Zuhörer die Entscheidung herausgefordert, sich über die Aussagen eine Meinung zu bilden, ganz wie Brecht es gefordert hätte.
Nicht bei allen Zuschauern kam dieses epische Theater positiv an, wie auf dem Kurznachrichtendienst Twitter zu lesen war. „Die Bearbeitung des Antisemitismus-Films traut dem Publikum leider wenig zu“, kommentierte die Journalistin Jessica Eisermann. „Die Worttafel zu Beginn wirkt wie eine schmierige Denunzierung der Autoren“, so der Kommentar von Timo Lokoschat, Redakteur bei „Spiegel Daily“. „Mit so einem Beipackzettel verabreicht man ja nicht mal Chemotherapien“, meinte der Journalist Jan-Philipp Hein zu dem Warnhinweis vor der Sendung. „Warum nicht gleich ein dickes Banner über die Doku mit Aufschrift ‚alles erstunken und gelogen‘? Gibts das bei jeder Doku?“ fragte die grüne Jungpolitikerin Lea Schlang. Ein anonymer User „M“ (@eiskaltland) meinte: „Eine Doku zerstören: Abstruse Laufbänder. Unverschämte Unterbrechungen. Ekelhafter Pseudocheck.“ Längst haben die relevante Medienöffentlichkeit und auch andere Öffentlichkeiten darauf reagiert, durchgehend ebenfalls negativ.
Die nächsten Wochen, vielleicht sogar erst Monate werden zeigen, inwieweit die Umfunktionierung eines kritischen Berichts zu einem Lehrstück über die Unwahrheit im Dokumentarfilmgenre mit den Produzenten und von diesen mit den Autoren abgesprochen war. Aktuell drängt sich der Eindruck auf, dass zumindest die Autoren keine Zustimmung zu dieser Form der medienpädagogischen Aufarbeitung gegeben haben und damit auch eine handfeste Urheberrechtsverletzung vorliegt. Denn immer noch haben Urheber einige, wenn auch wenige Rechte. Vielleicht liegt sogar eine Persönlichkeitsverletzung vor, da der Beitrag sichtlich entstellt wurde - wodurch das Urheberpersönlichkeitsrecht verletzt sein dürfte.
Medienpolitisch wiederum erscheint es natürlich als problematisch, dass diese Form der Zerlegung eines Genres ausgerechnet beim Thema Antisemitismus erfolgte, als gäbe es nicht Dutzende von anderen Dokumentarfilmen, die von der Betonung eines bestimmten Standpunkts leben, von Einseitigkeit, die bei Journalismus-Theoretikern in den letzten Jahren sogar als berufsnotwendige „Haltung“ gefeiert wurde. „Doppelstandards, wenn es um Israel geht“, auch dieser Vorwurf wurde auf Twitter erhoben. Es fällt schwer, zu widersprechen.
Man muss diesen Film nicht gut finden, um den Umgang der ARD bzw. WDR und ARTE (wo er auch entsprechend ausgestrahlt wurde) als fehlerhaft zu befinden. Wenn die Sender der Meinung waren, der Film sei mangelhaft (WDR-Fernsehdirektor Schönenborn: "Sieben Persönlichkeitsrechtsverletzungen, 25 (29?) Fehler"), dürfen sie ihn eben nicht ausstrahlen. Wenn es an dieser Ablehnung dann Kritik gibt, müssen Sender und Verantwortliche das aushalten.
Einen Film, den man für mangelhaft hält, mit Warntafeln, Untertiteln, Unterbrechungen und Anschlussveranstaltungen ohne Autoren auszustrahlen, macht hinten und vorne keinen Sinn. Es beleidigt die Autoren und die Zuschauer zugleich. Die Zuschauer deswegen, weil die meisten „Nutzer“ durchaus in der Lage sind, die Positionierung einer Sendung zu erkennen und nicht jede drastische Aussage gleich für bare Münze zu nehmen. Es ist ja nicht so, dass dieser Beitrag der erste in der ARD wäre, der eine „Haltung“ hat und wo der Zuschauer eine starke Meinung vermittelt bekommt.
Übrigens zeigte der WDR bereits am Folgetag, Donnerstag 22. Juni, einen Dokumentarfilm über Menschen in Israel und Palästina, erneut nicht ohne Haltung, wenn auch deutlich verhaltener als im Mittwochsdrama. Ganz ohne Warntafeln und Hinweis darauf, dass nicht alles so stehen bleiben könne.
Es geht also doch.
Michael Hirschler, hir@djv.de