Ukrainekrieg
Gefühl statt Fakten
Wladimir Putin ist ja ein so guter und fürsorglicher Präsident, die Ukrainer sind allesamt blutrünstige Faschisten und die westlichen Regime ihre willigen Steigbügelhalter. Mit diesen Märchen fluten junge Influencer die Social Media. Geht's noch?
Wer sich für Fakten interessiert und wissen will, wer Wladimir Putin ist, woher er kommt und was er vor hat, informiert sich in journalistischen Medien oder liest Bücher wie "In Putins Kopf" von Michel Eltchaninoff oder "Putins Netz". Das 600-Seiten-Werk hielt sich viele Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste und ist jeden Cent wert, den man dafür bezahlen muss. Es ist ein Sachbuch, geschrieben von der Journalistin Catherine Belton. Darin stecken jahrzehntelange Recherchen und zahllose Interviews mit Gegnern und Freunden Putins.
Viel schneller und weniger aufwendig ist es, locker und flockig ein Video zu produzieren und darin so richtig vom Leder zu ziehen gegen die angeblich blutrünstigen Faschisten in der Ukraine, denen Wladimir Putin und seine Kohorten den Garaus machen wollen. Um Fakten geht es da nicht, sondern um Propaganda mit zeitgemäßen Mitteln. Nachdem die EU dem Kanal RT den Hahn abgedreht hat, sind die sogenannten "Putinfluencer" der neueste Schrei des Kreml. Gut genährte Wohlstandskinder wie etwa Alina Lipp bringen ihren Altersgenossen ihre verquere Sicht der Dinge nahe. Wer die junge Frau ist und wie ihre Netzpropaganda funktioniert, hat erst unlängst Correctiv in einer langen Geschichte berichtet.
Aber es ist nicht Lipp alleine. In Italien, Spanien und anderen europäischen Ländern gibt es die Putinfluencer, die am liebsten auf Telegram posten, warum der Ukrainekrieg gerecht ist und ihre nationalen Regierungen mit ihrer Anti-Putin-Politik daneben liegen. Sicher, das ist Meinungsfreiheit, die die Mehrheit ertragen muss. Sorgen muss man sich aber an der Stelle machen, wo sich vor allem junge Menschen nur noch über solche Kanäle informieren und die Gefahr besteht, dass Journalismus keine Chance mehr hat und gerade diejenigen nicht mehr erreicht, die die Zukunft der Gesellschaften bilden. Die Befürworter von Demokratie und westlichen Werten müssen intensiv darüber nachdenken, ob ihre Stilmittel noch geeignet sind, um auch junge Leute zu erreichen. Wenn Gefühl vor Fakten geht, muss eben stärker die emotionale Trommel geschlagen werden. Darauf haben die Propagandisten kein Copyright.
Ein Kommentar von Hendrik Zörner