Reporterskandal
Einzelfall oder System?
Sind die Lügengeschichten beim SPIEGEL nur ein Einzelfall oder haben sie System? Und wenn, welches System trifft die Kritik? Das System SPIEGEL, das System "Geschichten", das System Journalismus-Wettbewerbe oder das System Journalismus?
Nur vom Einzelfall zu sprechen, enthebt die Systeme, in denen ein Missbrauch möglich wurde, jeder Kritik. Und umgekehrt nur das System als Grund zu nennen, macht aus einem einzelnen Menschen einen absoluten Hampelmann, der allein an den Fäden höherer Gewalten hängt.
Vielleicht trifft beides zu, Einzelfall und System. Bernard Madoff, der Wertpapierhändler mit dem Ponzi-Schema, war in seiner Dimension ein Einzelfall. Dennoch stand er als Extrembeispiel für ein Finanzsystem, das offensichtlich außer Kontrolle geraten war. Oder der Krankenpfleger in Norddeutschland, der über 100 Patienten ermordet haben soll. Auch hier ein Einzelfall, der dennoch Fragen an das System erlaubt, wie es denn möglich ist, dass ungewöhnlich hohe Sterbequoten auf Stationen nicht früher aufgefallen sind.
Was die persönlichen Gründe im Einzelfall waren, wird sicherlich in Zukunft zu erfahren sein, manches wird aber auch dem Datenschutz unterliegen. Die Systemprobleme dagegen werden zum Teil schon offen debattiert.
In der Debatte, die sich um den Fall "SPIEGEL" entwickelt, sind bereits mehrere Thesen geäußert worden:
- Die schlechte Honorierung sorge dafür, dass die oft freien Mitarbeiter/innen sich nicht leisten könnten, mit leeren Händen, d.h. ohne gute Geschichte von einer Reportage heimzukehren.
- Der Fokus auf das Format der Geschichte zwinge dazu, sie auf eine Weise erzählen zu müssen, bei der besonders viele schwer ermittelbare und zugleich kaum verifizierbare Details wie Gefühle, unmittelbare Wahrnehmungen, Stimmungsbilder vorkommen.
- Die Festlegung auf eine saftige Einleitung oder Abmoderation eines Beitrags durch eine Schnurre oder Anekdote zur Person/zum Thema erzeuge einen Zwang zu deren Erfindung.
- Die/der Reporter/in werde inzwischen wie im Genie-Kult gefeiert und stehe daher ständig unter dem Zwang, immer wieder neue, noch berührendere Geschichten zu liefern.
- Die Logik von Journalismus-Wettbewerben und Preisvergaben würde diejenigen belohnen, von denen die packendsten Geschichten kämen.
- Geschichten würden nur abgenommen werden, wenn sie von vornherein in das "Beute-Schema" bzw. die "Haltung" der Redaktionen passen würden, eine unwillkommene Meinung oder Information werde erst gar nicht abgekauft.
- Redaktionen stünden unter dem Druck, mit den Boulevard-Meldungen von Internetzeitungen oder viralen Meldungen in Sozialen Netzwerken zu konkurrieren, und würden daher auf emotionalisierte Information bestehen.
- In einem Zeitalter, in denen inzwischen sogar Schokopralinen mit einem Storytellings-Zettel in der Beilage verkauft würden, müsste ein gewisser fiktiver Anteil in der journalistischen Berichterstattung als zeitgemäßer Service für die Leserschaft verstanden werden.
- Wer einmal bei einem renommierten Medium Anerkennung gefunden habe, würde dann in anderen Medien unkritisch akzeptiert, während Newcomer sehr schwer Einstieg finden könnten.
Welche von diesen Thesen wirklich greifen, wird zu sehen sein. Schon ist das Murren einiger guter Geschichtenerzähler im Journalismus zu hören, dass gerade diejenigen, die nicht richtig schreiben könnten, jetzt das Format Geschichte zu Grunde kritisierten.
Die Debatte ist in jedem Fall wichtig, und wie bei jedem Systemversagen dürfte die Notwendigkeit erkannt werden, neue Sicherungen einzubauen. Gleichzeitig muss natürlich auch mehr auf die/den Einzelne/n geachtet werden und jede/r sein eigenes Tun selbstkritisch(er) hinterfragen. Denn dass es nicht nur ein Systemfehler, sondern auch ein Einzelfall war, steht außer Frage.
Michael Hirschler, hir@djv.de