Mitglied werden
Login Logout Mitglied werden
Warenkorb

Deborah Middelhoff

Die Zeit der gepackten Koffer ist zurück

10.11.2023

Aufgrund der aktuellen Entwicklungen hat sich die Hamburger Journalistin Deborah Middelhoff entschlossen, Deutschland zu verlassen. DJV-Bundesvorstand Philipp Blanke befürchtet, sie wird nicht die Letzte sein.

In diesen Tagen lesen wir oft Meldungen, die wir niemals mehr lesen wollten. "Wohnungen jüdischer Mitbürger mit Davidstern markiert"; "Boykott-Aufrufe gegen jüdische Firmen" – und eben auch diese: "Jüdische Chefredakteurin will Deutschland verlassen". Es war nur folgerichtig, dass es so kommen musste. Die Berichte, dass sich Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, gingen durch alle Medien.
Zuerst hatte es mit dem Erstarken der AfD zu tun. Michel Friedman überlegte kürzlich, seinen Koffer hervorzuholen und zu packen, um schnell abreisebereit zu sein. Stephan Kramer, Thüringens jüdischer Verfassungsschutzchef, erklärte, Deutschland bei einer Regierungsbeteiligung der AfD noch am selben Tag mit seiner Familie zu verlassen.
Und die schwarze Berliner Autorin Tupoka Ogette berichtete, was sich in ihrem "Für den Fall, dass"-Koffer befindet: Reise- und Impfpässe, Bargeld, Medizin, ein Fotoalbum sowie eine Liste mit Kontakten im Aus- und Inland. Tausende Menschen antworteten ihr daraufhin, ähnliche Vorbereitungen zu treffen. Dieses Mal wird nicht bis zuletzt gehofft und abgewartet. Diesmal lieber zu früh gehen als zu spät. Auf Checks and Balances oder eine vernünftige, demokratische Mehrheit wollen viele inzwischen nicht mehr vertrauen. Auch Deborah Middelhoff nicht.
Middelhoff ist im Hamburger Jahreszeiten Verlag als Chefredakteurin verantwortlich für Kulinarik-Magazine wie "Der Feinschmecker", "Foodie" und Johann Lafers "LAFER Bookazine". "Vor dem Hintergrund meiner Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft und aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Deutschland habe ich mich entschieden, meinen Lebensmittelpunkt ins Ausland zu verlegen", sagte Middelhoff laut Verlagsmitteilung. Vor ihrer Hochzeit mit dem ehemaligen Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff hieß sie mit Nachnamen Gottlieb. Sie wäre nicht die erste jüdische Journalistin, die Deutschland verlässt, verlassen muss. Die Liste der aus Deutschland geflohenen Journalistinnen und Journalisten liest sich bis heute wie ein bedrückendes Who is Who an Talent und Kreativität. Middelhoff ist dabei, sich einzureihen in die lange Liste mit Namen, die von Billy Wilder (Drehbuchautor sowie Polizei- und Gesellschaftsreporter der B.Z., bevor er als Hollywood-Regisseur Karriere machte und unsterblich wurde) bis zu Egon Erwin Kisch reicht.
Middelhoff verlässt ihren Verlag bis Ende Februar 2024, heißt es. In dieser Zeit wird sich das Klima für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland kaum ändern. Vielen ist es offenbar immer noch nicht unheimlich genug. Auch in der Verlagsmitteilung findet sich kein Verweis auf den erstarkenden Antisemitismus in Deutschland. Middelhofs Verleger Sebastian und Thomas Ganske "bedauern und akzeptieren ihre Entscheidung". Man "verstehe ihre persönliche Entscheidung" und "bedanke sich" für jahrzehntelange Arbeit.
Zum Ende der Mitteilung heißt es: "Wir werden freundschaftlich verbunden bleiben." Aber tut man für seine Freunde nicht etwas mehr? Bietet man nicht etwas mehr, als Sätze aus dem Baukasten für Unternehmensmeldungen? Bloß kein politisches Statement, auch nicht Flagge zeigen gegen Antisemitismus. Selbst dann nicht, wenn man durch ihn eine qualifizierte Fachkraft verliert. Mancher mag sagen, das gehört nicht in eine Unternehmensmitteilung. Ich bin der Meinung, das gehört dort sehr wohl hinein. Die Zeit der schlanken Füße ist vorbei und ein Bekenntnis gegen Antisemitismus ist niemals fehl am Platze. Nur bringt es halt den schönen und so lange gepflegten Formulierungssetzkasten durcheinander.
Zuletzt haben wir oft Meldungen, Reden, Statements gelesen, die aus diesem Standardformulierungssetzkasten bestückt wurden und daher immer altbekannt klingen. Derzeit oft irgendwas mit "nie wieder". Aber solche Statements-Versatzstücke helfen nicht mehr weiter. Die Koffer zu vieler sind schon gepackt. Jetzt muss endlich aufgestanden und gehandelt werden. Vielleicht packen manche ihre Koffer dann wieder aus. Die Zeit wird eng. Im Februar 2024 geht nicht die erste, es geht die nächste.

Weitere Artikel im DJV-Blog

Charlotte Merz
Charlotte Merz

15.05.2024

Die Richterin und das Grundrecht Pressefreiheit

Mit ihrem resoluten Vorgehen gegen einen ZDF-Reporter offenbart Richterin Charlotte Merz ein fragwürdiges Verhältnis zum Grundrecht der Pressefreiheit.

Mehr
STREIK BEIM WDR
STREIK BEIM WDR

07.05.2024

Gier auf Kosten der Freien

Dass Medienunternehmen in Tarifverhandlungen knauserig sind, ist nicht neu. Dass manche von ihnen erst durch Arbeitskämpfe zu besseren Angeboten zu bewegen sind, auch nicht. Dass aber die Honorare der …

Mehr
RAI
RAI

06.05.2024

Legt die Arbeit nieder

Beim italienischen Fernsehsender RAI wird heute gestreikt. Nicht für mehr Geld oder neue Tarifverträge, sondern gegen die Einmischungen der Regierung in die Programminhalte.

Mehr
ITALIEN
ITALIEN

26.04.2024

Hände weg von der RAI

Die Versuche der politischen Einflussnahme durch die Regierung Meloni auf den Rundfunksender RAI nehmen zu. Anfang Mai soll es deshalb einen Streik geben.

Mehr
MEDIENKRITIK
MEDIENKRITIK

25.04.2024

Til Schweiger überzieht

Im Interview mit der Zeit übt Schauspieler und Regisseur Til Schweiger heftige Kritik an einigen Medien. Das kann nach der Berichterstattung über ihn nicht verwundern. Aber bei Kritik belässt er es ni …

Mehr
WDR-RUNDFUNKRAT
WDR-RUNDFUNKRAT

24.04.2024

Zeichen gesetzt

Der Rundfunkrat des Westdeutschen Rundfunks fordert von dem Sender rechtliche Schritte, wenn die Erhöhung des Rundfunkbeitrags von der Politik nicht zügig beschlossen wird.

Mehr
JOURNALISTEN
JOURNALISTEN

22.04.2024

Wir sind kein Klischee

Warum nur geraten Journalisten im Spielfilm so gnadenlos daneben? Weil die Drehbuchschreiber keine Ahnung vom Journalismus haben? Oder weil sich das Klischee besser verkauft als die Wirklichkeit?

Mehr
URLAUBSENTGELT
URLAUBSENTGELT

19.04.2024

Freie, aufgepasst!

Freie beim Deutschlandradio haben Anspruch darauf, dass Wiederholungshonorare für die Berechnung des Urlaubsentgelts berücksichtigt werden. Das entschied das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurt …

Mehr
TARIFKONFLIKT
TARIFKONFLIKT

17.04.2024

Hoch zu Ross

750 Beschäftigte des Westdeutschen Rundfunks hatten gestern die Nase voll und beteiligten sich am Warnstreik der Gewerkschaften. Bestätigt wurden sie von den Verhandlern der Gegenseite.

Mehr
PROSIEBENSAT.1
PROSIEBENSAT.1

16.04.2024

Berlusconi ante portas

Droht der Fernsehkonzern ProSiebenSat.1 von Hauptaktionär Media for Europe übernommen zu werden? Die Medienaufsicht sollte ihren Blick schärfen.

Mehr
FERNSEHNACHRICHTEN
FERNSEHNACHRICHTEN

15.04.2024

Angekündigte Katastrophe

Mehrere Stunden lang flogen iranische Drohnen Richtung Israel. Stunden, in denen die Öffentlich-Rechtlichen ihr Programm hätten umkrempeln können. Doch bis zu Sondersendungen in ARD und ZDF vergingen  …

Mehr
SWMH
SWMH

11.04.2024

Tröpfchen-Kommunikation

Die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH), zu der die Süddeutsche Zeitung gehört, tut sich schwer mit klaren und umfassenden Fakten zum geplanten Stellenabbau bei der SZ.

Mehr
ÜBERGRIFFE
ÜBERGRIFFE

09.04.2024

Nicht mehr so schlimm?

Laut Reporter ohne Grenzen ist die Zahl der Übergriffe auf Journalisten 2023 gegenüber dem Vorjahr stark gesunken. Grund zur Entwarnung? Eher nicht.

Mehr
HÖCKE-INTERVIEWS
HÖCKE-INTERVIEWS

08.04.2024

Mit Präzision begegnen

Wie lassen sich Interviews mit Thüringens AfD-Politiker Björn Höcke führen? Sollten sie überhaupt geführt werden? Damit hat sich die Süddeutsche Zeitung in einem lesenswerten Bericht auseinandergesetz …

Mehr
FÖDERL-SCHMID
FÖDERL-SCHMID

05.04.2024

Hexenjagd geht weiter

Die Universität Salzburg bescheinigt der stellvertretenden SZ-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid "kein relevantes wissenschaftliches Fehlverhalten". Sie darf ihren Doktortitel behalten. Das sieht …

Mehr
UPDATE: RUNDFUNK-MANIFEST
UPDATE: RUNDFUNK-MANIFEST

04.04.2024

Nah am Rand

Über das "Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland" sind die notorischen Medienhasser in den Social Media aus dem Häuschen. Bei aller berechtigten Kritik an den Öffentli …

Mehr
KÖLNER STADT-ANZEIGER
KÖLNER STADT-ANZEIGER

03.04.2024

Vermarkter am Ruder

Die Online-Ausgabe des Kölner Stadt-Anzeigers soll der digitalen Produktentwicklung unterstellt werden und angeblich redaktionell unabhängig bleiben. Zweifel sind angebracht.

Mehr
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

28.03.2024

Die Leser sind nicht blöd

Zeitungsleser wollen für Inhalte, die mit KI erzeugt werden, weniger bezahlen. Das ergab eine Umfrage. Eigentlich eine klare Aussage - wären da nicht Marketingexperten, die Morgenluft wittern.

Mehr
VOICES FESTIVAL
VOICES FESTIVAL

27.03.2024

Journalismus trifft Medienkompetenz

Nur wenn Qualitätsjournalismus und Medienkompetenz zusammenspielen, kann eine Zukunft gelingen, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, fand DJV-Vorstandsmitglied Ute Korinth in Florenz heraus.

Mehr
TELEGRAM
TELEGRAM

26.03.2024

Schluss mit lustig

Ein spanisches Gericht hat den Messengerdienst Telegram in dem Land abgeschaltet. Grund sind Verstöße gegen das Urheberrecht.

Mehr