Deborah Middelhoff
Die Zeit der gepackten Koffer ist zurück
Aufgrund der aktuellen Entwicklungen hat sich die Hamburger Journalistin Deborah Middelhoff entschlossen, Deutschland zu verlassen. DJV-Bundesvorstand Philipp Blanke befürchtet, sie wird nicht die Letzte sein.
In diesen Tagen lesen wir oft Meldungen, die wir niemals mehr lesen wollten. "Wohnungen jüdischer Mitbürger mit Davidstern markiert"; "Boykott-Aufrufe gegen jüdische Firmen" – und eben auch diese: "Jüdische Chefredakteurin will Deutschland verlassen". Es war nur folgerichtig, dass es so kommen musste. Die Berichte, dass sich Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, gingen durch alle Medien.
Zuerst hatte es mit dem Erstarken der AfD zu tun. Michel Friedman überlegte kürzlich, seinen Koffer hervorzuholen und zu packen, um schnell abreisebereit zu sein. Stephan Kramer, Thüringens jüdischer Verfassungsschutzchef, erklärte, Deutschland bei einer Regierungsbeteiligung der AfD noch am selben Tag mit seiner Familie zu verlassen.
Und die schwarze Berliner Autorin Tupoka Ogette berichtete, was sich in ihrem "Für den Fall, dass"-Koffer befindet: Reise- und Impfpässe, Bargeld, Medizin, ein Fotoalbum sowie eine Liste mit Kontakten im Aus- und Inland. Tausende Menschen antworteten ihr daraufhin, ähnliche Vorbereitungen zu treffen. Dieses Mal wird nicht bis zuletzt gehofft und abgewartet. Diesmal lieber zu früh gehen als zu spät. Auf Checks and Balances oder eine vernünftige, demokratische Mehrheit wollen viele inzwischen nicht mehr vertrauen. Auch Deborah Middelhoff nicht.
Middelhoff ist im Hamburger Jahreszeiten Verlag als Chefredakteurin verantwortlich für Kulinarik-Magazine wie "Der Feinschmecker", "Foodie" und Johann Lafers "LAFER Bookazine". "Vor dem Hintergrund meiner Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft und aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Deutschland habe ich mich entschieden, meinen Lebensmittelpunkt ins Ausland zu verlegen", sagte Middelhoff laut Verlagsmitteilung. Vor ihrer Hochzeit mit dem ehemaligen Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff hieß sie mit Nachnamen Gottlieb. Sie wäre nicht die erste jüdische Journalistin, die Deutschland verlässt, verlassen muss. Die Liste der aus Deutschland geflohenen Journalistinnen und Journalisten liest sich bis heute wie ein bedrückendes Who is Who an Talent und Kreativität. Middelhoff ist dabei, sich einzureihen in die lange Liste mit Namen, die von Billy Wilder (Drehbuchautor sowie Polizei- und Gesellschaftsreporter der B.Z., bevor er als Hollywood-Regisseur Karriere machte und unsterblich wurde) bis zu Egon Erwin Kisch reicht.
Middelhoff verlässt ihren Verlag bis Ende Februar 2024, heißt es. In dieser Zeit wird sich das Klima für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland kaum ändern. Vielen ist es offenbar immer noch nicht unheimlich genug. Auch in der Verlagsmitteilung findet sich kein Verweis auf den erstarkenden Antisemitismus in Deutschland. Middelhofs Verleger Sebastian und Thomas Ganske "bedauern und akzeptieren ihre Entscheidung". Man "verstehe ihre persönliche Entscheidung" und "bedanke sich" für jahrzehntelange Arbeit.
Zum Ende der Mitteilung heißt es: "Wir werden freundschaftlich verbunden bleiben." Aber tut man für seine Freunde nicht etwas mehr? Bietet man nicht etwas mehr, als Sätze aus dem Baukasten für Unternehmensmeldungen? Bloß kein politisches Statement, auch nicht Flagge zeigen gegen Antisemitismus. Selbst dann nicht, wenn man durch ihn eine qualifizierte Fachkraft verliert. Mancher mag sagen, das gehört nicht in eine Unternehmensmitteilung. Ich bin der Meinung, das gehört dort sehr wohl hinein. Die Zeit der schlanken Füße ist vorbei und ein Bekenntnis gegen Antisemitismus ist niemals fehl am Platze. Nur bringt es halt den schönen und so lange gepflegten Formulierungssetzkasten durcheinander.
Zuletzt haben wir oft Meldungen, Reden, Statements gelesen, die aus diesem Standardformulierungssetzkasten bestückt wurden und daher immer altbekannt klingen. Derzeit oft irgendwas mit "nie wieder". Aber solche Statements-Versatzstücke helfen nicht mehr weiter. Die Koffer zu vieler sind schon gepackt. Jetzt muss endlich aufgestanden und gehandelt werden. Vielleicht packen manche ihre Koffer dann wieder aus. Die Zeit wird eng. Im Februar 2024 geht nicht die erste, es geht die nächste.