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Glosse mit Maske

Die Sache mit dem Corona-3g-Virus

06.05.2020

Als ich kürzlich auf dem Berliner Arbat* hinunterwanderte, begegnete mir mein alter Freund Anatolij, den ich noch aus den feurigen und durchaus lukrativen Zeiten des Leningrader Komsomol kenne. Wie jeder anständige Emigrant und Journalist ist Anatolij durch und durch konservativ, ja man könnte sagen, sogar so konservativ, dass sich noch amerikanische Neocons schütteln, nachdem er eine seiner berührenden Reden über Freiheit, das Geld und das Individuum in der Weltgeschichte gehalten hat, weil er es schafft, selbst in der Gründung Roms noch ein Attentat vermessener Sozialisten zu sehen, eine Vorstellung, die natürlich für die in der Summe doch recht einfachen Gemüter des Neuen Kontinents dann doch eine Dosis zu stark ist.

„Anatolij!“ rief ich und hoffte, dass man meinen heiseren Ruf unter der Stoffmaske überhaupt hören konnte (es war zu der Zeit, also das ganze Land nur noch maskentragend einkaufen konnte und besinnlichere Naturen wie ich daher die Maske aus lauter Bequemlichkeit einfach gar nicht mehr abnahmen; und auch, um eine zusätzliche Barriere zur Umwelt aufzubauen, was mir schon immer ein Anliegen gewesen ist).

Anatolij trug keine Maske, und ich hätte das besser zum Anlass nehmen sollen, zur Seite zu schauen (eine Kopfbewegung, zu der das derzeit in diesem Lande regierende Kabinett der Virologen übrigens durchweg rät, und insofern, obgleich natürlich recht unhöflich wirkend, unter Hygienegesichtspunkten das Allervernünftigste ist); merken Sie sich, werter Leser, wenn immer jemand ohne Maske sich nähert, es lauert Gefahr. Sie werden aber im Folgenden schon merken, was ich meine (auch wenn es rein literarisch natürlich ein Unding ist, das Ergebnis einer Geschichte schon vorab zu vermelden. Wir sind hier aber auch nicht wirklich in der Literatur, sondern eher in einer journalistischen Dokufiktion; und im Journalismus, das wissen wir spätestens seit dem berühmten Interviewkünstler Tom K., ist im Prinzip alles erlaubt, außer Langeweile).

Anatolij erkannte mich überraschender Weise trotz Maske sofort und stürzte auch noch geradezu auf mich zu, so nah, dass ich sicherheitshalber gleich zwei Schritte zurück machen musste. „Alexander!“ rief er, „bei Gott, Du lebst!“

Ich bemerkte einen Anflug von Ironie in seiner Stimme, aber so sind wir nun mal, wir Emigranten. Im Prinzip sind wir ja tote Seelen, von unserem Gastland quasi ignoriert, weil wir ihre heilige Sprache am Ende doch nie richtig lernen und im Übrigen die bilateralen Beziehungen am Ende nur stören, für die doch am wichtigsten ist, dass Öl und Gas verlässlich fließen und umgekehrt deutschsprachige Dichter in Kulturinstituten dies- und jenseits des Urals ihre mahnenden Gedichte lesen können; niemand braucht Emigranten, die im Zweifel auch noch grantig werden können wie unser Emigrationskollege Pjotr Pimuschkin, der sich erst zur Freude der hiesigen Politik auf dem Roten Platz mit seinem Allerliebsten festnagelte und auch die Eingangstür der Ljubjanka anzündete, dann aber, kaum emigriert, anfing, peinliche Videos von Politikern einer gewissen, mit unserem Gastland befreundeten Großen Nation zu veröffentlichen. Wir sind tote Seelen, wir zählen nicht, stören im Zweifel nur und deswegen erlauben wir uns diese bissigen Dialoge, die uns an bessere Zeiten erinnern.

„Anatolij“, rief ich, um umgekehrt in die Offensive zu gehen, „ist es nicht mal ein Wunder, dass unser großer Präsident dieses Mal alles richtig macht. Anders als alle diese Verschwörungstheoretiker und Verschleppungspolitiker wie Boris Johnson, Bolsanero und Trump, der allerlei seltsame Mittelchen gegen den Virus empfiehlt. Bei uns in der Heimat wird doch alles richtig gemacht, das ganze Land runtergefahren, Jagd auf den Virus, Gesundheitsschutz total!“ Natürlich war meine Bemerkung nicht ganz ernst gemeint (nicht ganz ernst zu sein, ist meine alte Krankheit, die mir schon oft und auch von Freundinnen immer wieder vorgeworfen wurde; in der Tat nicht sinnvoll, nicht in der Politik und auch nicht der Liebe, aber wohl eine Krankheit erfolgloser Literaten). Mit der geradezu eruptiven Reaktion von Anatolij hatte ich dann aber doch nicht gerechnet.

„Richtig gemacht?“ brüllte Anatolij geradezu und rückte schon wieder auf mich zu, so dass ich erneut Rückschritte machen musste. „Es handelt sich doch bei diesen Maßnahmen nur um eine Fortsetzung dieser seelenlosen Öl- und Gasdiktatur. Um ihre Macht auszuweiten, zack, das ganze Land zu. Niemand darf arbeiten, keiner darf sich Bücher kaufen, Demonstrationen verboten. Der Traum von Despoten wie unserem obersten Führer und seine ganze Clique!“

„Es mag praktisch für die Regierung sein, aber ist es nicht trotzdem sinnvoll, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen?“ entgegnete ich zahm, um ihn nicht noch weiter auf die Palme zu jagen. Leider ging es mit dieser Bemerkung erst richtig los.

„Wer sagt denn, wie gefährlich dieses Virus wirklich ist? Sind nicht viel mehr Personen letztes Jahr an der ganz normalen Grippe gestorben? Und überhaupt sterben Alte und Übergewichte, Leute, die im Prinzip ohnehin verstorben wären, wenn nicht an diesem Virus, dann an der nächsten Grippe. Dafür muss das Land doch nicht zugemacht werden!“

„Dann musst Du wohl nach Schweden oder gleich nach Belarus auswandern, da denken die ja wohl so ähnlich“, versuchte ich schwaches Entgegenkommen zu signalisieren, um ihn ein wenig zu beruhigen.

„Der Lukaschenka, in der Tat, der macht es richtig!“ rief jetzt Anatolij.

„Lukaschenka, nicht Dein Ernst, oder?“ Jetzt blickte ich ihn allerdings fassungslos an (so weit man noch von Blick sprechen konnte, denn jetzt fing meine Brille an zu beschlagen, ein großer Nachteil der Maskenwirtschaft für uns durchweg bebrillte Intellektuelle).

„Nur zur Klarstellung“, räusperte sich Anatolij, „ich habe immer gesagt, der Lukaschenka ist ein Diktator, klipp und klar. Kein Zweifel daran---“

Es war klar, das war das Intro. Jetzt ging es richtig zur Sache.

„Aber wir müssen auch den Unterschied zu unserem Präsidenten sehen. Unser Präsident war immer ein Mann des Apparats, der Machtvertikale. Er war immer beim Staat beschäftigt, erst im Geheimdienst, dann in der Administration. Er kennt nichts anderes, als von oben nach unten zu schauen. Die Verhältnisse zu diktieren. Masken auf, Masken ab. Läden zu, Läden auf. Zack, zack!“

Er gestikulierte wild mit den Händen und rückte erneut auf mich zu, und ich weiter zurück, wie in einem seltsamen Ballettstück.

„Der Lukaschenka dagegen, er kommt von ganz unten. Er stand seinerzeit ganz allein da mit seiner Meinung gegen die Elite in seinem Land. Dann hat er einen Kraftakt gemacht und sich durchgesetzt. Weil er mit den Leuten umgehen kann. Das hat er bei seiner Arbeit als Kolchosendirektor gelernt. Mit Menschen umzugehen, ihre Interessen zu erkennen und sie einzubinden. Deswegen funktioniert das ja auch, diese geschickte Kolchosendiktatur in Belarus!“**

Er blickte mich an, als habe er den Faden verloren, dann nickte er wie zu sich selbst und fuhr fort: „Er hat sofort gemerkt, dass diese ganze Geschichte mit dem Virus nicht verhältnismäßig ist. Und eben gar nichts zugemacht. Und das Volk ist auf seiner Seite. Das Leben muss doch weiter gehen!“

„Das Volk auf seiner Seite, Anatolij? In dem Land gibt es doch überhaupt keine freie Presse!“ wagte ich einzuwerfen. Ich erkannte Anatolij nicht wieder.

Der allerdings kam erst richtig in Fahrt. „Freie Presse, Meinungsfreiheit, das sind Worte, Worte, Worte. Was interessiert uns das dauernd? Was uns doch interessieren muss, ist das Leben, leben will ich, nach eigener Laune hin- und herwandern und nicht eingesperrt sein von durchgedrehten Hygienepolitikern!“***

„Aber Anatolij, Du weißt schon, dass in diesem Deutschland auch sehr viel verboten ist wegen dem Virus, und trotzdem sind wir keine Diktatur wie in Russland!“, versuchte ich noch einmal entgegenzuhalten.

„Das ist es doch gerade Alexander, was ich meine!“ rief Anatolij jetzt geradezu vollends außer sich. „Die Leute merken gar nicht, dass es hier ist wie in Russland! Der Putinismus, der herrscht jetzt überall. Alles ist verboten, niemand darf mehr demonstrieren, Einigkeit zwischen Berlin und Moskau, fallen Dir nicht die Schuppen von den Augen?“

Jetzt schien seine Energie ihn aber selbst zu übermannen, seine Augen weiteten sich plötzlich, sein Kopf schien geradezu zu explodieren, dann lief er blau an und fiel mit einem Schlag zu Boden. Der Riese war gefällt. Natürlich machte ich mir sofort Sorgen, denn gerade heutzutage hat man es oft nicht mit einfachen Ohnmachten oder etwas komplizierteren Herzinfarkten zu tun, es könnte auch der Virus sein. Ich trat also beflissentlich zur Seite und überließ es weniger literarischen Naturen, sich um die ja heutzutage mit gewissen Risiken verbundene Mund-zu-Mund-Beatmung zu kümmern, wählte aber pflichtschuldig den Notruf, worauf alsbald ein Rettungswagen erschien und Anatolij einsammelte.

Die Sache nahm mich emotional stark mit, was bei mir so viel heißt wie, einige Seiten Dostojewskij lesen und im Übrigen im Netz alte Sowjetkomödien auf YouTube anzuschauen, das hat jeder mal gemacht, wenn es einem nicht ganz so gut ging.

Endlich, etwa eine Woche später, fand ich die Kraft, mich bei der Charité nach dem Gesundheitszustand meines Bekannten zu erkundigen. Nach einigem Datenschutz-Rumtata bekam ich tatsächlich den behandelnden Arzt ans Telefon.

„Ist es der Virus?“ fragte ich besorgt.

„Ja, Covid“, bestätigte der Mediziner, „allerdings Covid-3g!“

„Covid-3g?“, davon hatte ich noch nicht gehört.

„Richtig gehört. Covid-3g ist ein ganz neuer Virus, der sich aber rasend schnell verbreitet. Er kursiert im Internet, aber springt auch in die Köpfe über. Die Träger des Virus verbreiten die dollsten Theorien. Bisherige Wertesysteme geraten durcheinander, und es werden überall Verschwörungen gewittert!“

„Sie meinen, der Anatolij hatte so einen Virus - - -?“

„Er hat ihn noch. Wir versuchen den Patienten zwar adäquat zu versorgen, mit täglicher Lektüre des Tagesspiegels und dem rbb im Fernseher auf dem Patientenzimmer. Wir müssen Ihnen aber leider sagen, dass dieser Virus tückischer ist, als wir dachten. Er verbleibt möglicherweise das Leben lang in der infizierten Person. Das bedeutet: Periodische Geschmacklosigkeit, was die Aussagen über die Wirklichkeit angeht, immer wieder Anfälle politischen Fiebers bis hin zu Schwindel und so weiter!“

„Kann man nichts dagegen machen?“

„Nun, natürlich gilt zunächst: halten Sie Distanz von allen Orten, wo Sie sich entsprechend infizieren können. Bereits einmal Infizierten muss man helfen, ihre Immunkräfte gegen Covid-3g zu entwickeln…“

Da kam mir ein Gedanke: „Herr Arzt, in meiner Heimat**** gibt es ein besonderes Mittel, mit dem man sich in Stunden inneren Zweifels an allem und jedem gut behelfen kann…“

„Sie denken an Isolation in sibirischen Straflagern? Durchaus eine Idee! Aber von Deutschland schwer zu erreichen. Vielleicht genügt auch eine Unterbringung im Erzgebirge, das ist klimatisch doch so ähnlich“, grübelte der Arzt.

„Nein, anders, ich habe so einen Wodka, da sind auch Honig und Chilischoten drin, praktisch drei desinfinzierende Wirkstoffe auf einmal, aus ukrainischer Produktion, Marke Nemiroff!***** So eine gute Flasche am Stammtisch, das hilft doch eigentlich gegen alles!“

Der Arzt hob den Daumen: „Absolut richtig! Patienten mit Covid-3g-Syndrom gehören an den Stammtisch, und da sollten sie möglichst für immer bleiben. Hauptsache, sie tummeln sich nicht in Politik oder Publizistik!“

Sehen Sie, werter Leser, wie diese Multikulturarlilifiliität diesem unseren Lande hilft? Gegen wirklich gefährliche Viren wie Covid-3g wirkt eben nur die gute, bewährte Medizin aus dem Osten mit dem gewissen Schuss Honig und Chili.

Wenn Sie selbst also mal einen Anflug von Covid-3g bei sich spüren, bitte merken: Zurück an den Stammtisch, und erst mal ein paar Gläschen kippen. Schon wird einem wohlig warm und man ist auf dem Niveau, wo der******* Virus einen haben will.

Alles wird gut. Bleiben Sie gesund!



Ihr Alexander Alexandrowitsch Blog



*Personen, die nicht aus Berlin stammen, sei erläutert, dass das eine liebevolle Bezeichnung für einen gewissen, durchaus ethnisch geprägten Bereich auf und zwischen der Lietzenburger Straße und dem Kurfürstendamm in unserer Hauptstadt ist

**Zufällige Ähnlichkeiten mit einer Argumentation in einer Sendung eines beliebten, oppositionellen russischen Hörfunksenders könnten beabsichtigt sein, sollen dessen aber ansonsten oder an sich außerhalb von Covid-3g-Zeiten normalerweise vorhandene Urteilsfähigkeit keinesfalls in Frage stellen.

***Natürlich wollen wir hier keinesfalls irgendwelche unpassenden Parallelen zu Aussagen dichterischer Größen der Vergangenheit ziehen, Übereinstimmungen mit Texten anderer Autoren sind reiner Zufall.

****Als Schüler von Majakowskij ist mein Heimatbegriff natürlich durch das „Passport“-Gedicht definiert.

*****Erschreckend billiges Product Placement, aber es kommt in dieser Situation darauf an, Solidarität gerade auch für darniederliegende ausländische Schlüsselindustrien zu zeigen. Natürlich gilt: Übermäßiger Alkoholkonsum gefährdet den Gesundheitsminister.

******Man sagt übrigens „das“ Virus in der Wissenschaft. In Doku-Soapfiktionen wie hier bzw. im Leben an sich ist das „der“ allerdings gerade zwingend. Auch ist Covid-3g nicht zu verwechseln mit Covid-5G, der ja bekanntlich durch den Einsatz von Mobilfunknetzen entsteht.

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