Internet-Debatte
Die Rückkehr der Knallchargen
Die aktuelle Gefahrendebatte gefährdet Projekte, Jobs und Aufträge in Onlineredaktionen
"Das Internet ist ein Überwachungssystem, in dem Du gelegentlich auch ein Buch kaufen oder ein Flug buchen kannst"*, dieser aktuelle Tweet von Erik Spiekermann gibt gut wieder, welche Stimmung nach dem Bekanntwerden der umfangreichen staatlichen und unternehmerischen Überwachung im Netz herrscht.
Die aktuelle Debatte, die von Sascha Lobo begonnen und von Evgeny Morozov fortgeführt wird, ist dabei gar nicht das Problem. Lobo ist ein gewiefter Internet-Entertainer, der nur deswegen ein wenig Moll spielt, um die nächste Fanfare um so krachender ins Netzdebatten-Orchester einzuspielen. Und Evgeny Morozov erzählt seit Jahren (durchaus oft zu Recht) das Gleiche und ist im Akademischen damit wohlgelitten. Wenn er von der Politik Milliardeninvestitionen in öffentliche Netzangebote fordert (um private Überwachungs-Geschäftsmodelle zu vermeiden), ist das schön, aber spielt keine Rolle, da er politisch nicht aktiv ist.
Gravierend ist dagegen, dass eine ganze Reihe von Knallchargen in den Geschäftsführungen und Chefredaktionen großer Medienhäuser, die das Internet schon immer suspekt fanden oder - in manchen Fällen - noch nie "hineingeschaut" haben, jetzt Oberwasser zu bekommen glauben. Es mag im Jahr 2014 irre oder unglaubhaft scheinen, diese Führungskräfte - oft im Alter oberhalb von 55 Jahren, also noch aus der guten alten Welt ohne Netz stammend - stoppen aktuell Onlineprojekte, grenzen die Kompetenzen der Onlineredaktionen ein und kürzen die Etats. Freie Onlinejournalisten verlieren ihre Aufträge oder fest-freien Verträge, weil das Internet plötzlich als Gefahrengebiet gilt und deswegen einfach weggespart werden kann.
Die Kurzanalyse hierzu findet sich ebenfalls auf Twitter (Achtung, Internet!):
"Immer wenn jemand schreibt 'das Internet ist kaputt', stirbt irgendwo ein unschuldiges StartUp". So der treffende Tweet von Markus Huendgen, der unter @videopunk im "Kurznachrichtendienst" Twitter schreibt.
Die negativen Auswirkungen der Panikmache rund um das Netz sind schon da. Doch wer glaubt, er könne mit den Formaten des 20. Jahrhunderts - Printmedien und linearem TV und Radio - jetzt richtig aufdrehen und das Internet samt Onlineredaktion herunterschrauben, schadet seinem Medium ganz erheblich. Die Onlineredakteure sind hier gefragt, in den Redaktionen hart zu kämpfen.
Klar, "das Internet" ist schwierig, voller Überwachungsmechanismen und Viren, mit Firmen, die Urheber- und Persönlichkeitsrechte brechen wollen und Staaten, die Nutzer komplett überwachen. Aber eine Alternative gibt es für Medien nicht. Mehr statt weniger Investition kann die Devise nur lauten. Nicht nur im Finanziellen, wie es Morozov fordert, sondern vor allem auch in der Rolle, die Online in Medienhäusern zugemessen wird. Man muss vielleicht nicht gleich - wie der Axel Springer Verlag - sein traditionelles Geschäft streckenweise aufgeben, aber "Online first" bleibt notwendig.
Michael Hirschler, hir@djv.de (@freie)
*im englischen Original: "the Internet is a system for surveillance that occasionally allows you to book a flight or buy a book."