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"Hinterland"

Medien machen im Lokalen - der Journalismus erfindet sich neu

03.06.2022

Medien machen im Lokalen - aber wie? Diskussion in Bautzen. Foto: Bernd Seydel

Was macht ein Ostfriese an der polnisch-ukrainischen Grenze? Was sich nach einem Ostfriesenwitz anhört, ist in Wirklichkeit ein Zeichen von neuen Richtungsentscheidungen in Lokalmedien. „Wir wollen weg vom Terminjournalismus, hin zu Hintergrundgeschichten“, meint Claus Arne Hock, Redakteur bei der Ostfriesen-Zeitung in Leer. „Aktuelles gibt es auch kostenlos überall im Internet, aber gut recherchierte Geschichten nur in der Zeitung“. Aufhänger für die Arbeit fern der Heimat und nah am Konflikt waren die Hilfstransporte aus Ostfriesland in die Ukraine. Der Reporter schlug dem Chefredakteur vor, einen Transport journalistisch zu begleiten – und erhielt tatsächlich die Genehmigung. Mit dem gemieteten Wohnmobil und einer Kollegin ging es dann auf die Reise. An der Grenze, in den Flüchtlingslagern lief die Recherche mit Interviews, Fotos, Videos. Fünf Tage lang. Nicht nur mit den ostfriesischen Helfern, sondern allen Akteuren vor Ort: Flüchtlingen, Helfern, Offiziellen.

Neue Wege im Lokalen waren das Thema auf einer DJV-Tagung im Rahmen der Konferenzserie „Journalismus im Hinterland“, auf der vom 31. Mai bis 1. Juni Journalistinnen und Journalisten im ostsächsischen Bautzen konferierten.   

Vor besonderen Herausforderungen stehen dabei Axel Arit  und sein Zeitungsteam. Als stellvertretender Chefredakteur einer besonders kleinen Regionalzeitung kämpft er täglich um die Aufmerksamkeit der Lesenden und muss sich ständig Sorgen um die künftige Finanzierung und damit auch die Personalausstattung machen. Er steht mit an der Spitze der „Serbske Noviny“, einer Tageszeitung, die in sorbischer Sprache erscheint. Die Sorben sind eine der drei offiziell anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland. Seit der Völkerwanderung im 6. Jahrhundert im Osten Europas von der Ostsee bis nach Kroatien siedelnd, sind sie nach der Eroberung der nördlichen Gebiete durch ostfränkische und später deutsche Heere vor über 1.000 Jahren sukzessive entrechtet, vertrieben oder kulturell marginalisiert worden. Heute gibt es zwischen 30.000 – 60.000 Personen, die der Volksgruppe zugerechnet werden. Die Sprache ist slawischen Ursprungs, und in dieser Sprache erscheint auch die Zeitung.

Nicht nur die Abwanderung von Menschen in die Metropolen und die demographische Entwicklung stellen die Zeitung hier vor Probleme, sondern auch noch der tägliche Kampf um die Bedeutung der eigenen Kultur und auch um Finanzmittel, schilderte Axel Arit. Der detailkundige Journalist und Kenner der sorbischen Geschichte kann lebhaft erzählen, wie sehr das Schicksal der Region durch Politik und Finanzen geprägt ist. Seine Zeitung wird von der Stiftung für das sorbischen Volk gefördert, aber dennoch bleiben die Mittel knapp. „Wir suchen dringend neues Personal, aber gleichzeitig sind die Vergütungen, die das Medienhaus bieten kann, zu knapp besessen. Fällige Lohnerhöhungen sollten nicht gegen Einstellungen ausgespielt werden“, meint Arit kritisch.

„Es ist nicht Aufgabe der Politik, Medien direkt zu fördern“, meint Erik Kurzweil von der Sächsischen Staatsregierung angesichts wirtschaftlicher Probleme kleiner regionaler Verlage. „Es ist Aufgabe der Privatwirtschaft, ihre Betriebe zu entwickeln.“ In den Notsituationen wie Corona habe der Freistaat freilich versucht, Unternehmen und Freiberuflern zu helfen. Der Abteilungsleiter in der Sächsischen Staatskanzlei, der unter anderem für Medienpolitik zuständig ist, kann sich allenfalls vorstellen, dass Kurse gefördert werden könnten für junge Menschen, die sich zum Journalismus hingezogen fühlen: „Für die könnte man schon Kurse organisieren, das könnte der Freistaat auch fördern.“

Außerdem lässt er erkennen, dass über Maßnahmen nachgedacht werden könnte, die Zeitungsverlagen bei den hohen Kosten der Zustellung helfen könnten. Denn es gebe viele Ältere, die nicht einfach auf das Internet umschalten würden, die auf die Zeitung angewiesen seien. Was den öffentlich-rechtlichen Rundfunk angehe, habe die Regierung schon viel geleistet: „Über die Verwaltungsräte des MDR ermöglichen wir, dass viele sorbische Formate umgesetzt werden können. Wir haben uns deswegen dafür eingesetzt, dass ein Vertreter der Domowina im Verwaltungsrat sitzt.“ Die Domowina ist ein Dachverband sorbischer Vereine.

Erstaunlicherweise erntete Kurzweil mit der Idee einer Hilfe bei der Zustellung von Zeitungen „aus Papier“ von einigen Teilnehmenden auch Kritik. „Die Zukunft liegt Online, da sollte geholfen werden, Zeitungen aus Papier, die sind in einigen Jahren weg. Das Fernsehen hat die Zeitung nicht ersetzt, weil beide lineare Formate haben, aber Online mit der ständigen Aktualisierung und Abrufbarkeit ist ein Gamechanger“, formulierte eine Teilnehmerin kategorisch. Eine Sichtweise, der sich andere Teilnehmer nicht anschließen wollten. „Ich möchte morgens meine Zeitung aus Papier, in der ich morgens den schnellen Überblick habe, wenn ich sie aufschlage“, meinte Rolf Dvoracek, der als Fotograf jahrzehntelang in Bautzen arbeitete, nun im Alter von 87 Jahren im Unruhestand sitzt und ganz selbstverständlich der gesamten Tagung folgte. Dvoracek warnte auch davor, das Lokale in der Berichterstattung weiter zu reduzieren: „Die Leute abonnieren die Zeitung wegen der lokalen Nachrichten. Wenn die Lokalredaktionen weg sind, werden 50 Prozent der Zeitungen vom Markt gefegt werden.“

Ohne staatliche Hilfen muss Andreas Kirschke zurechtkommen, der als freier Journalist vor allem für sorbische Tageszeitungen und christliche Wochenzeitungen tätig ist. „Im Lokalen geht es nur, wenn ich aus einem Termin mindestens zwei Beiträge machen kann. Außerdem suche ich nach Interviews und anderen Geschichten, die längerfristig bleiben. Nur von Tageszeitungen kann sich ein freier Redakteur nicht ernähren“, meinte Kirschke.  „Ich betreibe Zweifach-Verwertung und Mehrfachverwertung. Einen Termin mache ich mindestens für zwei Kunden. Beispielsweise für Serbske Novine und dann noch für den MDR. Jetzt wohne ich in Görlitz. Wegen weiter Wege muss ich Termine verbinden. Dabei bin ich spezialisiert auf Orte, wo die Kollegen nicht hinkommen, diese Nische füll ich auf. Man muss auch Termine verbinden. Ein Thema für mehrere Zeitungen. So schreibe seit Jahren über das sorbische Osterreiten, das geht auch bundesweit.“

Etwas einfacher hat es da Matej Zieschwauck. Er arbeitet in der sorbischen Redaktion des beitragfinanzierten Mitteldeutschen Rundfunks und kann ein breites Spektrum im Lokalen abbilden. „Wir machen einerseits das Programm für alle. Meine Eltern wollen eben auch Blasmusik hören, für die Jüngeren senden wir aber sorbischen Rap. Alle Gruppen müssen berücksichtigt werden.“ Um die Menschen im Lokalen zu erreichen, veranstaltet der Sender im Sommer auch Beach-Volleyball-Turniere. Da ist die Jugendredaktion von Juni – August auf den sorbischen Dörfern unterwegs, bei denen dann gerade auch junge Menschen zusammenkommen. „Und wenn die dann plötzlich untereinander auf Sorbisch sprechen, dann merken wir, wir haben etwas erreicht. Das macht dann Freude.“ Das vielfältige Angebot des Senders in Social Media wird abgerundet durch eine App des Sorbischen Programms. Kein Grund für Pessimismus also: Der Programmmacher vermittelt klar, dass Arbeit im Lokalen und für die Sorben Spaß machen kann.

Lokale Arbeit bedeutet aber auch besondere Nähe zu Problemsituationen. „Durch Pegida-Demonstrationen und Corona-Zweifler werden wir regelmäßig persönlich angegriffen, nur weil wir unsere Berichterstattung betreiben. Man ruft unsere Namen auf Demonstrationen aus und spricht uns auch auf der Straße an mit dem nicht freundlich gemeinten Hinweis, dass man dem Gegenüber bekannt sei“. Zwei Journalistinnen aus der Region erzählten von diesen Herausforderungen und suchten gemeinsam mit den Teilnehmenden nach Lösungen. Manchmal versuchen sie zu zweit zu Demonstrationen zu gehen, manchmal halten sie sich in der Nähe der Polizei auf.

Solche Erfahrungen begrenzen sich aberr längst nicht mehr auf den Osten Deutschlands. „Mich hat schockiert, dass seit Corona auch in Ostfriesland passiert, was man früher nur hier im Osten vermutet hätte“, meinte Claus Arne Hock von der Ostfriesen-Zeitung. „Das Ausrufen meines Namens auf Demos, die Verbreitung meiner Adresse im Internet, das sind Sachen, die man früher nicht im beschaulichen Ostfriesland vermutet hätte.“

Was ist mit Konflikttraining und anderen Maßnahmen? „Einen provozierten Konflikt auf Demonstrationen bestehen zu wollen, ist aussichtslos“, meinte ein erfahrener Fotojournalist. „Egal, was man vorher trainiert hat, der Körper und die Psyche verhindern wirksame Abwehrreaktionen in den meisten Fällen. Ich bitte Euch darum, geht einfach weg, wenn Leute Euch angehen. Weggehen ist die wirksamste Form der Deeskalation!“

Demonstrationen sind vor Ort nach Aussagen von Einheimischen kein Klischee, sondern ohne Zweifel ständige Realität. Einige Teilnehmende der Tagung waren bei der Anreise nach Bautzen dann auch passend direkt in eine „Montagsdemo“ hineingelaufen, in der Impfgegner und auch einige Anhänger der russischen Nation mit Fahnen demonstrierten und selbst Fahnen in Schwarz-Weiß-Rot hochgehalten wurden. Eigentlich war der Anspruch der Tagung gewesen, „Bautzen jenseits der Klischees“ zu erleben, und nun hatte man direkt im ersten Moment das Klischee vom rechtsextremen, rückständigen Osten direkt neben dem Bürgersteig an sich vorbeiziehen. Zum Glück gab es zum Ausgleich dieses eindrücklichen Erlebnisses einen Workshop bei der Tagung, bei der die Teilnehmenden an vier Orten mit Menschen jenseits solcher Klischees zusammentreffen konnten. So wurde das Sozial- und Eventzentrum „Steinhaus“ besucht, das Sorbische Nationalensemble, ein Gründungszentrum und der Fotograf Rolf Dvoracek, der über seine Arbeit in der Stadt seit frühester DDR-Zeit berichtete.

Es kann auch einiges bewegt werden. Neue Netzwerke können im Lokalen helfen, indem sie Vorarbeit leisten und Ideengeber sind. Jonathan Sachse vom gemeinnützigen "Correctiv.Lokal" zeigte, wie über Slack mit über 1.000 journalistisch Berufstätigen im Lokalen kommuniziert wird. "Correctiv.Lokal" unternimmt dabei eigene, vorbereitende Recherchen und stellte diese den Lokalmedien zur Verfügung. Wenn das Thema dann von Dutzenden von Lokalmedien eigenständig fortentwickelt und vor Ort umgesetzt wird, bekommt es eine besondere Dynamik.

Im Lokalen kann noch viel passieren, wurde bei der Tagung deutlich, das „Hinterland“ lebt. Auch wenn ein Teilnehmer den Begriff „Hinterland“ als abwertende Bezeichnung wertete, die man besser in Zukunft mehr verwenden sollte, sieht das nicht jeder so: „Ich werde jetzt immer mit dem Begriff Hinterland twittern“, meinte jedenfalls Claus Arne Hock, der Lokaljournalist aus Leer, der an die ukrainsche Grenze und jetzt auch nach Bautzen gefahren ist.


Michael Hirschler

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