Glosse mit Maske (III)
Corona, die private Altersvorsorge und Baron von Münchhausen
Sie wissen schon, die Zeiten sind schwierig, wir sind alle im Ausnahmezustand, und für uns freie Journalisten heißt das, wir bekommen keine Aufträge mehr. Natürlich könnte jemand jetzt fragen, wieso denn in einer solchen Situation weniger statt mehr Journalismus gefragt ist, denn eigentlich müsste es doch in einer solchen historischen Ausnahmesituation doch ganz anders sein. Es müsste doch alles fotografiert, gefilmt, dokumentiert werden, was jetzt stillsteht, und die Schicksale von Millionen, die ohne Arbeit und in verzweifelter Lage sind, sollten ans Licht gezerrt werden vom Journalismus!
Sehen Sie, das Leben ist nicht immer so einfach wie der vermeintlich gesunde Menschenverstand.
Schon als Rom brannte, hieß es als erstes zu all den Geschichtsschreibern und Literaten, ab jetzt wollen wir am besten erst mal gar nichts mehr von Euch sehen und hören, denn unseren Palästen ist das Geld ausgegangen, wir sind abgebrannt und wollen erst mal alles in Ruhe neu aufbauen, danach gibt es wieder Brot und Spiele und erst danach und mit sicherem zeitlichen Abstand auch etwas Literatur (kein Wunder also, warum der Kaiser Nero fortan in der Geschichtsschreibung so negativ dargestellt wurde; die römische Publizistik hat ihm Ausgangs- und Publikationsverbot nicht verziehen).
Unsere Verlage und Rundfunksender sind bekanntlich vom altrömischen Patriarchentum geprägt, was so viel heißt wie: erst muss wieder frisches Geld da sein, und danach gibt es wieder Toilettenpapier, Fußballspiele und irgendwann auch wieder regulären Journalismus. Bis dahin heißt es für viele Freie: keine Aufträge, keine Berichte.
Was bleibt mir also übrig, als mich um staatliche Hilfe zu bemühen! Doch kaum wollte ich den Antrag auf Hilfe des großzügigen deutschen Sozialstaats stellen, da blinkte es mir im Internet auf der zuständigen Seite entgegen: „Antrag nicht für Vermögende!“
Nun habe ich meine eigenen Ansichten, wo so ein Vermögen beginnt. Für ein Haus, das ein wenig Gediegenheit und nicht nur Bedürftigkeit vermittelt, muss man in diesem unserem Land ja mittlerweile so um die 700.000 hinblättern, wenn man nicht gerade in Hinterbuxthausen wohnen will, und dann sagen ja auch alle, dass man so für das Alter schon noch mal so um die 500.000 zurückgelegt haben sollte, für alle Fälle. Will heißen, frühestens ab etwas über einer Million fängt aus meiner bescheidenen Sicht so etwas wie Vermögen an.
Denkste! Als ich den Antragsbogen las, freute ich mich zunächst. Denn der deutsche Sozialstaat erklärte mich tatsächlich zu einem solchen Vermögenden! Also nicht, dass ich jetzt irgendwie eine Million gewonnen hätte. Nein, da stand klipp und klar geschrieben, dass ein „erhebliches Vermögen“ schon jeder habe, der über 60.000 Euro auf der hohen Kante hat! Was mich natürlich besonders rührte, denn in meine Kapital-Lebensversicherung bei der Presse*****versicherung hatte ich bis dato exakt 61.000 Euro eingezahlt. Bingo, ich bin nicht nur vermögend, sondern sogar in erheblicher Weise vermögend!
Im Prinzip sollte ich mich freuen. Amtlich zum erheblich Vermögenden erklärt, das kann nicht jede/r von sich sagen. In Zukunft, abends in der Ü-50-Disko sagen zu können: „Übrigens, ich habe erhebliches Vermögen, mit offiziellem Siegel…“, das kann nicht jeder, wobei derzeit ja leider die Diskos für uns Jüngere geschlossen sind, obwohl das wahre Risiko ja nur bei den Oldies* liegt, wie ja auch der berühmte Boris** schon deutlich gesagt hat, und wie er auch gesagt hat, leiden wir Jungspunte jetzt wegen der Rücksichtnahme auf Alte unter der Schließung von allem und jedem, das Spaß macht.
61.000 Euro, erheblich? Nun gut, vielleicht, wenn ich den Lebensabend in Perm (hinterm Ural) oder Chiang Mai (hinterm Goldenen Dreieck) verbringen möchte, oder noch günstiger in Laos oder Bangladesh. Das Problem ist halt, mit dem Alter wird man so sentimental nach der Heimat*** und ist auch manchmal auf Kliniken angewiesen, und die sind in den an sich günstigen Ländern dann keinesfalls billig, wenn überhaupt vorhanden!
Ich war also erbost, dass man mich mit 61.000 Euro Sparvertrag bereits zum Superreichen erklärte, der auf keinerlei Grundsicherung zugreifen konnte. Da ich über das Internet niemanden erreichen konnte, entschloss ich mich, einen Verantwortlichen in Politik oder Verwaltung aufzusuchen.
Natürlich ist es nie einfach, jemanden zu finden, der sich in diesem unserem Lande wirklich hinter etwas stellt. Im Zweifel sind alle hierzulande derart gegen alles und grundsätzlich negativ, dass man auf die Idee kommen könnte, wir lebten in einem großen Versehen. Man muss also suchen und suchen. Endlich bekam ich einen Hinweis: M. (der Name spielt hier keine Rolle), jene unscheinbare Persönlichkeit, die keiner kennt, die sich aber dadurch auszeichnet, dass sie zwischen den verschiedenen Regierungsfaktionen, Ministerien und sonstigen politisch Verantwortlichen bis hin zur berühmten Zivilgesellschaft so lange dealt, bis in einer Frage eine Lösung gefunden wurde, was manchmal ein Gesetz, eine Verordnung oder auch nur eine Beförderung oder Entlassung sein kann. M. ist mit allen vernetzt, balanciert alles aus, nimmt auf, verdaut, gibt weiter, nimmt zurück und so weiter, bis ein Ergebnis vorliegt, das kommunizierbar ist. Wer ein Anliegen hat, schreibt am besten gar keine Hass-Posts im Internet oder Social Media oder einen Blogbeitrag, sondern geht zu jemanden wie M., so kompakt ist es manchmal.
Nach einigem Hin und Her und einigen im Gegenzug unter dem Tisch durchgeschobenen Informationen, die sonst niemand hat, erhielt ich tatsächlich einen Termin von immerhin zehn Minuten, was für ein Gespräch mit M. enorm ist, manche Firmen zahlen gerne mal eine Million an einen Lobby-Vermittler für so eine Chance.
M. hatte sein Büro in einem unscheinbaren Bau in der Nähe der Wilhelmstraße, fünfte Etage, und offensichtlich nichts außer einer einzigen Sekretärin, und neben der Bürotür klebte auch nur ein liebloser DIN-A-4-Zettel mit einer Edding-Aufschrift „Koalitionskoordination V“, was auch immer das genau heißen sollte und ohne Hinweis darauf, wo I-IV sein mochten.
Als ich ins Zimmer von M. vorgelassen wurde, hielt ich erst einmal erschrocken inne: vor mir war kein einfaches Büro mit Schreibtisch, sondern die Hälfte des Raumes wurde von einer großen Glaskugel ausgefüllt. Der Schreibtisch und der Mensch, sie waren in dieser Kugel!
„Keine Sorge, kommen Sie rein, setzen Sie sich an der Seite!“ Der Mann (also M.) bedeutete mir, mich auf einen Stuhl zu setzen, der rechts vom Eingang an der Wand stand. „Machen Sie sich keine Gedanken, die Kugel dient nur zum Schutz vor Viren! Bei meinen vielen Kontakten ist es sowohl für mich als auch meine Gesprächspartner besser, wir sind geschiedene Leute! Wegen der Größe lässt es sich hier ganz bequem arbeiten…“
Seine Worte wurden von einer Art Schneesturm unterbrochen, durch die es fast so aussah, als säße M. in einer überdimensionalen Schneekugel für Kinder. Dann gluckste es geradezu: „Entschuldigen Sie, das ist so eine kleine ironische Note in dieser Schutzeinrichtung!“ M. putzte sich den Schnee von den Schultern und schüttelte sich: „Wir haben diese Kugeln aus japanischer Produktion. Eigentlich waren sie für einen Freizeitpark gedacht, deshalb haben sie diesen Schnee-Automatismus, alle zehn Minuten. Lässt sich nicht abstellen. Andere haben es besser, die sitzen in ihrer Kugel auf einer Art künstlicher Insel, mit Sonne und Meer, freilich gibt es dort alle zehn Minuten einen künstlichen Tsunami!“
„Ich habe ein Problem mit der Definition des Vermögens bei der Grundsicherung“, stotterte ich, geradezu bestürzt darüber, dass ich das Freizeitvergnügen so stören musste. „Ich finde, 60.000 Euro Grenze ist viel zu niedrig. Ich möchte meine karge Altersvorsorge nicht auflösen!“
M. setzte sich gerade auf (wobei er noch einmal den Schnee vom Schreibtisch wischte): „Das sind aber die Regeln. Sie sollen Grundsicherung nur bekommen, wenn Sie diese wirklich brauchen!“
„Aber wenn ich die 61.000 Euro, die ich jetzt in meinem Versicherungsvertrag habe, ausgebe, dann habe ich im Alter überhaupt nichts!“
„Tja“, meinte M., „das habe ich meiner Tochter auch immer gesagt“, (er war wohl über 60 Jahre alt), „ aber sie wollte trotzdem Künstlerin werden. Brotlos, habe ich ihr gesagt. Brotlos! Wäre sie Beamtin geworden, hätte sie jetzt das Problem nicht. Sie übrigens auch nicht!“ Er blickte mich vorwurfsvoll an.
„Es kann doch nicht jeder Beamter werden“, protestierte ich, „wir brauchen doch auch freie Journalistinnen und Journalisten, zur Kontrolle der Mächtigen und für die Pressefreiheit!“
M. stand jetzt auf und schritt um seinen Schreibtisch, kniete sich nieder und begann aus dem Schnee in der Kugel einen Schneemann zu bauen. „Das ist nicht richtig. Erstens kann jeder Beamter werden, denn der Zugang zum Staatsdienst steht jedem Deutschen offen, zweitens können Sie dann als Beamter immer noch freie Presse machen, sehen Sie hier, ich mache zum Beispiel Social Media! Ich bin sogar ein Influencer, wie man so sagt. Auf Instagram, mit Fotos mit ganz viel Schnee!“ Ganz stolz zeigte er auf das Handy, das auf dem Schreibtisch lag.
„Und wie soll ich jetzt als frei arbeitender Mensch über die Runden kommen“, rief ich erbost, „wie?“
„Geben Sie das Geld doch einfach aus, und, schwupps!, sind Sie auch berechtigt zur Corona-Grundsicherung!“
„Einfach mal 61.000 Euro ausgeben?“
„Warum nicht. Wobei 1.000 auch genügen, dann haben Sie exakt 60.000 und sind gerade noch im grünen Bereich. Oder geben Sie besser gleich 11.000 aus, so ein wenig Abstand zu 60.000 ist auch nicht falsch, sonst kommt noch jemand auf die Idee und taxiert Ihre Wohnungseinrichtung mit einem gewissen Wert, und Sie haben dann in der Summe doch zu viel“, gluckste M. – allerdings gluckste er offensichtlich gar nicht so sehr wegen seiner Aussagen, sondern wegen dem Schneemann, dem er jetzt gerade seinen Büro-Tacker als Nase aufgesetzt hatte. „Sehen Sie, ich bin auch manchmal kreativ, das geht auch als Beamter!“
„Also Ihre Empfehlung lautet, ich soll jetzt mein sauer Erspartes mal eben schnell mit Saus und Braus irgendwo im Nobelrestaurant verfressen und versaufen, damit ich dann Anrecht auf Grundsicherung habe? Das Geld schnell ausgeben, das mir dann im Alter fehlen wird?“
„Im Nobelrestaurant geht derzeit sowieso nicht, alles geschlossen!“ dozierte M. jetzt vorwurfsvoll, „Sie müssen sich schon etwas auf Amazon bestellen. Wobei ja auch dieser Einzelhandel wieder auf sein soll. Also kaufen Sie sich etwas Schönes. Zum Beispiel einen guten Anzug: Wenn Sie in den Staatsdienst wollen, sollten Sie für das Bewerbungsgespräch gut angezogen sein. Denn vieles geht online, aber die Einstellung ist immer noch offline üblich!“ Er sprang vom Schneemann wieder zum Schreibtisch.
Kaum hatte er sich gesetzt, tobte schon wieder ein Schneesturm durch die Kugel. „Das ist das Signal!“ rief M. und winkte mir zu, „Exakt zehn Minuten. Zeit für Sie zu gehen. Ihr Anliegen ist angekommen. Ich werde es in der Koalition diskutieren. Eventuell gibt es eine Lösung für Ihr Problem, vielleicht aber schicken wir Ihnen auch einfach ein Erklär-Buch, in dem Sie nachlesen können, wie Sie Ihr Altersvermögen so blitzschnell ausgeben können, dass Sie anschließend einen Anspruch auf Grundsicherung haben!“
Womit ich umgehend von der Sekretärin aus dem Zimmer geholt wurde und wieder auf der Straße stand. Was lernen wir daraus, liebe/r/s Leser/in*nen?
Hart für die private Altersvorsorge zu sparen ist schon deswegen sinnvoll, weil man in Krisenzeiten der einzige ist, der mit gutem Gewissen so richtig viel Geld ausgeben darf, denn nur so bekommt er ein Anrecht auf Hilfeleistungen.
Paradox, sagen Sie vielleicht.
Ich sage gelassen: Im Gegenteil, passt. Denn heute ist der 300. Geburtstag von Baron von Münchhausen, dem Erfinder der privaten Altersvorsorge.
Hurra! Hurra! Hurra!
Ihr Alexander Alexandrowitsch Blog
*Alle über 80
**Welcher Boris hier genau gemeint ist, kann offen bleiben, im Zweifel passen alle denkbaren.
***Erweiterter Heimatbegriff, erfasst natürlich auch dieses Deutschland
****Natürlich meinen wir kein bestimmtes Produkt. Klar ist auch, dass Riester- und Privatrentenverträge nicht aufgelöst werden. Wir Romantiker unter den Sparern erlauben uns freilich, einfach und frech auf eine Geldsumme und nicht nur Rentenzahlung zu sparen, weil Bargeld durchaus auch mal lacht und eine vernünftige Geldanlage sein kann.